Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, Kap. 63

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis – Wikipedia

Meine Mutter beendete ihr Leben in der Wohnung ihrer Schwester in der Ben-Jehuda-Straße in Tel Aviv, in der nacht von Schabbat auf Sonntag, den 6. Januar 1952, den 8. Tewet 5712. Damals tobte in Israel ein geradezu hysterischer Streit über die Frage, ob der Staat Israel von Deutschland Reparationen für das Vermögen von Juden, die während der Hitler-Zeit ermordet worden waren, fordern und annehmen dürfe oder nicht. Einige teilten David Ben Gurions Standpunkt, man dürfe nicht zulassen, daß die Mörder die Ermordeten auch noch beerbten, und hielten es entschieden für richtig, daß der Gegenwert des von den Deutschen geraubten jüdischen Vermögens dem israelischen Staat zurückerstattet und diesem dadurch ermöglicht würde, die Überlebenden des Völkermords zu integrieren. Andere wiederum, mit dem Oppositionsführer Menachem Begin an der Spitze, erklärten voller Schmerz und Wut, dies sei ein moralisches Verbrechen und eine Entweihung des Andenkens der Ermordeten, wenn der Staat der Opfer den Deutschen leichte Absolution für schmutziges Geld verkaufe.
[…]

Diese Zeilen sind die Perspektive eines Kindes in diesem “im autobiographischen Stil gehaltenen” Romans von Amos Oz. Sie helfen insbesondere Deutschen, einmal die israelische oder jüdische Perspektive “der Sache mit den Reparationen” einzunehmen.

Der 6. Januar ist übrigens der Geburtstag meiner eigenen Mutter. Sie starb auch jung – im Alter von 47 Jahren. Der Krebs raubte sie uns im Jahr 1985.

Von der vorletzten Seite dieses Kapitels und damit dieses Romans, denn es ist eben das letzte Kapitel:

Alles erschien ihr so, als verdiene und benötige es Mitgefühl, aber ihr Mitgefühl war verbraucht.

Dieses Gedanke kommt mir einigermaßen vertraut vor, nun, nicht vollständig, denn meines ist immer noch nicht ganz verbraucht, will ich doch mindestens noch João Gabriels Kinder erleben und spielen sehen eines Tages.

Dies ist dann das Ende dieses Buches:

Meine Mutter entschied sich, diese Nacht in ihren Kleidern zu schlafen, und um sicherzugehen, daß sie nicht wieder zu einer Leidensnacht in der Küche erwachen würde schenkte sie sich ein Glas Tee aus der Thermosflasche ein, die ihre Schwester ihr ans Bett gestellt hatte, und wartete, daß er ein wenig abkühlte, und als er abgekühlt war, schluckte sie mit diesem Tee ihre Schlaftabletten. Wäre ich dort bei ihr gewesen in jenem Zimmer zum Hinterhof in Chajas und Zvis Wohnung, zu jener Stunde, um halb neun oder Viertel vor neun an jenem Schabbatausgang, hätte ich ihr bestimmt mit aller Kraft zu erklären versucht, warum sie das nicht tun dürfe. Und wenn es mir nicht gelungen wäre, es ihr zu erklären, hätte ich alles getan, um ihr Mitleid zu erregen, daß sie sich ihres einzigen Sohnes erbarme. Ich hätte geweint und gefleht, ohne jegliche Scham, häte ihre Beine umklammert, und vielleihct hätte ich mich auch ohnmächtig gestellt oder mich geschlagen und gekratzt bis aufs Blut, wie ich es sie in Momenten der Verzweiflung hatte tun sehen. Oder ich wäre wie ein Mörder über sie hergefallen, ohne Zögern hätte ich eine Vase gepackt und sie auf ihrem Kopf zertrümmert. Oder hätte sie mit dem Bügeleisen geschlagen, das auf einem Regal in der Zimmerecke stand. Oder hätte ihre Schwäche ausgenutzt und mich auf sie geworfen, ihr die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihr alle ihre Pillen weggenommen, all ihre Tabletten, Dragees, Lösungen, Essenzen und Sirups, und hätte sie allesamt vernichtet. Aber sie haben mich nicht dort sein lassen. Nicht einmal zur Beerdigung haben sie mich gehen lassen. Meine Mutter schlief ein und schlief diesmal ohne irgendwelche Albträume und ohne Schlafstörungen, und gegen Morgen erbrach sie sich und schlief wieder ein, in ihren Kleidern, und weil Zvi und Chaja Verdacht zu schöpfen begannen, wurde kurz vor Sonnenaufgang ein Krankenwagen bestellt, und zwei Bahrenträger trugen sie behutsam hinaus, als wollten sie ihren Schlaf nicht stören, und auch im Krankenhaus wollte sie auf niemanden hören, und obwohl man auf diese und jene Weise versuchte, ihren guten Schlaf zu stören, schenkte sie ihnen keine Beachtung, auch nicht dem Facharzt, von dem sie gelernt hatte, daß die Seele die furchtbarste Feindin des Körpers sei, und sie erwachte nicht mehr an jenem Morgen, auch dann nicht, als der Tag aufleuchtete und zwischen den Fikusbäumen im Krankenhauspark der Vogel Elise sie verwundert rief, immer aufs neue rief und rief, vergebens rief und es doch wieder und wieder versuchte und es noch immer versucht, manchmal.

Arad, Dezember 2001

Ich brauche jetzt eine neue herzergreifende und ähnlich ernsthafte Lektüre.
Erstmal wird wohl Sands Buch dran sein, welches ich zu Ende bringen möchte …


Comments

Leave a Reply

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.